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Historische Persönlichkeiten, die still und mit wenig Aufsehen in die Zeitgeschichte eingreifen, sind selten. Ludwig Rehlinger, ist eine davon. 1927 in Berlin geboren, lernt er bereits als 16-Jähriger die Schrecken des Krieges kennen. Fast alle seine Schulkameraden fallen. Nach englischer Kriegsgefangenschaft studiert er an der Humboldt-Universität Berlin. Von den kommunistischen Ideologen bald verbannt, folgen Studiensemester in Jura und Volkswirtschaft an der Freien Universität und in Innsbruck. Seit 1955 ist er als Rechtsanwalt tätig, bevor er 1957 in das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen eintritt. Dort legt der junge Ministerialbeamte den Grundstein für einen Verwaltungsvorgang, der intern „Besondere humanitäre Bemühungen“ genannt und erst mit dem Mauerfall enden wird.

Was sich so banal anhört, ist ein ungewöhnliches aber knallhartes Ost-West Geschäft. Es ist der sogenannte „Freikauf“, das Geschäft mit der „Ware“ Mensch, ein moderner Sklavenhandel. Die ersten Verhandlungen über den systematischen Freikauf von politischen Gefangenen beginnen schon kurz nach dem Mauerbau. Es ist die Zeit, in der sich die SED-Regierung unter Ulbricht und die Bundesregierung mit Adenauer an der Spitze geradezu feindlich gegenüberstehen. Und doch werden im Schatten des Kalten Krieges und durch Männer wie Ludwig Rehlinger, vor aller Öffentlichkeit verborgen, vorsichtig Fäden gesponnen. Während der zuständige Bundesminister Rainer Barzel zunächst Bedenken vorträgt, erkennt der Verleger Axel Springer die einmalige Chance.

Nutznießer sind beide Seiten. Während der Westen die Freilassung der oft langjährig Inhaftierten erreicht, füllt sich die stets klamme Staatskasse im Osten mit begehrten Devisen. Moralische oder gar ideologische Bedenken, seine Bürger dem Klassenfeind zu verkaufen, gibt es offenbar nicht. Dafür preisen die SED-Propagandisten von Kurt Hager bis Karl-Eduard von Schnitzler lieber die Vorzüge des „wahrhaften Humanismus“ im Arbeiter- und Bauernstaat. Diesem fließen, bis an sein Ende, damit fast 3,4 Milliarden DM zu. Das ist über das Dreifache des umstrittenen Straußkredits. Als Gegenleistung werden 33.755 Häftlinge aus den DDR-Gefängnissen freigelassen. Nicht alle dürfen danach ausreisen. Das Geschäft betrifft nicht nur politische Gefangene, sondern auch über 2000 Kinder, die durch den Mauerbau getrennt, im Rahmen der Familienzusammenführungen zurück zu ihren Eltern können.

Doch diese Dimension kann der junge Ministerialbeamte Rehlinger nicht erahnen, als er im September 1963 mit einem Koffer voll Bargeld am Lehrter Stadtbahnhof auf den ersten Freikauf wartet. Vorausgegangen ist das Angebot des Ostberliner Anwaltes Vogel, der im Auftrag der Staatssicherheit handelt. Doch statt der avisierten 1000 Häftlinge, die im Westen alle aktenkundig sind, bekommt die Ostseite kalte Füße und teilt Rehlinger mit, dass nur noch 500 Häftlinge freikämen. Wieder muss der Beamte unter den tausend Akten prüfen und auswählen, wem er in die Freiheit verhilft. Es ist die bedrückendste Zeit für den 36-Jährigen. Noch bedrückender wird sie, als Vogel schließlich das Angebot auf 100, dann auf 50 und am Ende auf 10 Häftlinge reduziert. Unter den ersten 8, die es dann wirklich schaffen, befinden sich zwei Mitglieder der Jungen Gemeinde aus Berlin-Schmöckwitz. Ihr Vergehen: Sie hatten während einer Dampferfahrt auf der Ostsee sich den Scherz erlaubt einen Zettel zu schreiben und den Kapitän, „seine Majestät“, wegen der „guten Stimmung an Bord“ um Weiterfahrt Richtung Bornholm gebeten. Für die jungen Männer, die ihre Rüstzeit mit dem Ausflug krönen wollten, endet dieser Scherz vor dem Bezirksgericht Rostock. Beide erhalten 8 Jahre Haft.

Vom Erfolg des ersten Freikaufs überzeugt, folgen weitere. Immerhin warten 12.000 politische Gefangene in den SED-Zuchthäusern. Und der Nachschub reißt nicht ab. Doch Routine wird das Geschäft noch lange nicht. Spektakuläre Botschaftsbesetzungen oder Agentenaustausche auf der Glienicker Brücke eröffnen immer neue Handlungsfelder. Fast immer ist Ludwig Rehlinger, der sich nie in den Vordergrund drängt, dabei. Erst recht, als er nach einem Zwischenspiel als Präsident des Gesamtdeutschen Instituts – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben zum Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium aufsteigt. Ihm ist sehr wohl bewusst, welch große Verantwortung er trägt, denn es geht um Menschen und Landsleute. Es spornt ihn an, den Unschuldigen zu helfen, deren Weg nur über den Freikauf in die Freiheit führt.

Noch vor dem Ende der DDR wird Ludwig Rehlinger für wenige Monate unter dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, Senator für Justiz in Berlin. Doch die deutsch-deutschen Themen lassen ihn nicht los. Neben Willy Brandt, Lothar de Maiziere, Johannes Rau, Bärbel Bohley, Martin Walser, Heiner Müller u.v.a. wird er im Januar 1990 Gründungsmitglied des ersten gesamtdeutschen Vereins, der Deutschen Gesellschaft e. V. Dem Ziel, den Vereinigungsprozess zu begleiten, aufzuklären und Vorurteile abzubauen, verschreibt er sich als Vorsitzender und später als Ehrenvorsitzender.

1998 zieht die Familie Rehlinger aus Bonn nach Eichwalde bei Berlin. Die Umgebung gefällt dem passionierten Jäger und leidenschaftlichen Segler. Unweit entfernt liegt ein See, wo Rehlinger einst unbeschwerte Kindheitstage verbrachte.

Am 28. März 2023 stirbt Ludwig Rehlinger, hochbetagt. Es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass er auf jenem Friedhof in Eichwalde seine letzte Ruhe findet, auf dem ausgerechnet Karl-Eduard von Schnitzler begraben ist. Der Gemeinde sollte schon allein dieser Umstand, aber noch mehr Rehlingers Verdienste als „Freikäufer“, ein Ehrengrab wert sein.

 

 

26.04.2023

 
 
 

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